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„Wir dürfen die Zuversicht nicht verlieren."


Vive l’Europe!

Es ist schön, dass wir diese Worte wieder gemeinsam sagen, ohne dass wir uns über einen Bildschirm zuwinken müssen. Und es ist schön, dass wir den Europatag wieder live feiern können, ohne uns online zuzuprosten. Unsere letzten Europafeiern in Mirande, Tubize und Korntal-Münchingen waren 2019.

Dr. Joachim Wolf, Bürgermeister von Korntal-Münchingen hält eine Rede auf der Europafeier

Damals hatte noch keiner für möglich gehalten, dass ein Virus die Welt für zwei Jahre aus den Angeln heben würde. Seitdem ist nichts mehr selbstverständlich. Errungenschaften wie offene Grenzen, 75 Jahre Frieden, unkompliziertes Reisen, wohin man will, freier Warenverkehr und Wohlstand – all das wurde in dieser Zeit erschwert bzw. unmöglich. Deshalb haben wir uns umso mehr gefreut, dass die Pandemie jetzt endlich weitestgehend „im Griff“ zu sein scheint, dass sich der Kampf gegen diesen unsichtbaren Gegner nun offenbar auszahlt und in diesem Sommer wieder ein hoffentlich normales Leben möglich sein wird.

Dr. Wolf, Dr. Sussner, Dr. Detzer, Herr Bilger und Herr Epple vor der Europaflagge

Aber dann überfiel Präsident Putin mit seiner russischen Armee im Februar dieses Jahres die Ukraine. Seitdem ist Krieg in Europa.

Und wieder ist nichts mehr normal.

Mit Entsetzen nehmen wir wahr, was für ein unbeschreibliches Leid Krieg innerhalb von kurzer Zeit anrichtet, wie ein Land in Europa verwüstet, ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht, Menschen ihrer Heimat beraubt, deren Existenz zerstört und eine große Zahl von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen psychisch und physisch schwer verletzt oder gar getötet wird. Die Menschen fliehen, leiden und sterben, weil ein Aggressor und Verfälscher der europäischen Geschichte seinen Machthunger um jeden Preis verwirklichen will.

Und wieder stehen wir vor einer Herausforderung: als Europa, als Stadt, als Persönlichkeit: Wie gehen wir nur mit dieser Bedrohung in Europa um?

In Korntal-Münchingen ist es uns gelungen, innerhalb von kürzester Zeit die Aktion „Korntal-Münchingen hilft“ auf die Beine zu stellen. Die Bürgerinnen und Bürger spendeten Geld und packten Hilfspakete. Unter Hochdruck entwickelte die Stadt ein Konzept, um den Geflüchteten, die aus der Ukraine nach Korntal-Münchingen kommen, das Leben hier so leicht und erträglich wie möglich zu machen. Inzwischen haben wir in Korntal-Münchingen rund 180 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen, die meisten von Privatleuten.

Ein außerordentlich hohes Maß an Solidarität, an Mitgefühl und Hilfsbereitschaft ist an vielen Stellen unserer kommunalen Gemeinschaft erkennbar.

Deutsch-Sprachkurse finden bereits statt und werden dankbar wahrgenommen. Wir haben ukrainische Schulklassen gegründet. Benefizkonzerte wurden veranstaltet und sogar ein Feuerwehrfahrzeug wurde von Korntal-Münchingen an die Ukraine gespendet und von ehrenamtlichen Feuerwehrkameraden dorthin überführt.

Die Hilfsbereitschaft bei den Korntal-Münchingern ist also erfreulich groß. Dafür möchte ich mich noch einmal bei allen Beteiligten sehr herzlich bedanken. Das gibt Hoffnung.

Aber auch die Angst vor einer Ausweitung des Krieges treibt uns um. Diese befürchteten und auch schon eingetretenen Folgen eines solch schrecklichen Krieges hatten auch die Gründer Europas vor Augen. In den Nachkriegsjahren kämpften sich die europäischen Nationen noch mühsam aus den Trümmern hervor. Als am 9. Mai 1950  der damalige französische Außenminister Robert Schumann den Grundstein für die Zusammenarbeit der Nationen in Europa legte, tat er das vor allem aus einem Grund: Er wollte nie wieder Krieg in Europa. Schumann ging davon aus, dass ein Zusammenschluss von wirtschaftlichen Interessen die Nationen in Frieden zusammenschweißen würde. Sein Ziel: Die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, die vor 70 Jahren gegründet wurde, sollte einen weiteren Krieg in Europa (ich zitiere) „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ machen.

Was würde Schumann sagen, wenn er wüsste, dass jetzt  wieder ein Land in Europa in Trümmern liegt?

Würde er resignieren, klein beigeben? Als hätte er es geahnt, sagte er zur Geburtsstunde der Europäischen Union: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“ Was bedeutet das? Frieden ist absolut nicht selbstverständlich. Wir müssen uns enorm anstrengen, um den Frieden zu wahren und bzw. aktuell erst einmal wieder herzustellen. Aber wie?

Was kann Europa jetzt noch für den Frieden tun? Seit Ausbruch des Krieges sind eine Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Maßnahmen ergriffen worden. Die Europäische Union arbeitet mit Hochdruck daran, sich so schnell wie möglich unabhängig von den Energielieferungen aus Russland zu machen. Russland ist fast komplett ausgegrenzt – noch nicht mal bei Musik- und Sportwettbewerben darf das Land noch teilnehmen. Doch haben diese Maßnahmen ausgereicht, um Putin zur „Vernunft“ zu bringen? Offensichtlich nicht.

„Frieden schaffen ohne Waffen!“ rufen die Pazifisten uns zu. Dieses hehre und von großem Idealismus geprägte Ziel ist ohne Zweifel aller Ehren wert. Und es gibt sicher niemanden unter uns, dem dieser gewaltlose Weg nicht der weitaus liebste wäre. Aber dennoch lehrt uns die aktuelle Realität auf grausame Weise, dass wir allein mit solch schönen und gut gemeinten Worten Putin sicher nicht zur Einsicht bewegen werden. Ohne erheblichen Druck – leider auch militärischen – wird es nicht gehen. Bundeskanzler Scholz hat in einer Ansprache im Mai gesagt:  „Es muss einem Ukrainer zynisch vorkommen, wenn gesagt wird, er solle sich gegen die Putin'sche Invasion ohne Waffen verteidigen. Das ist aus der Zeit gefallen." Jetzt ist aber nicht der Moment für Europa „aus der Zeit zu fallen.“

Aber dennoch dürfen wir niemals aufhören, den nun eingeschlagenen Weg der Unterstützung des ukrainischen Volkes in ihrem Kampf um Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung auch mit der Lieferung sogenannter „schwerer“ Waffen kritisch zu hinterfragen.

Die Mittel des wirtschaftlichen Drucks und der unerschütterlichen Diplomatie müssen weiterhin größte Priorität haben.

Die Abwägung zwischen weiterem unmenschlichem Leid, das die kriegerische Auseinandersetzung jeden weiteren Tag dem ukrainischen Volk beschert, und den übergeordneten Zielen, die wir alle im Sinne der Ukraine, aber auch der gesamten „freien Welt“ – und dies insbesondere in Europa – verfolgen, ist unglaublich schwer. Aber schließlich werden in der Ukraine auch unsere Werte von Freiheit, von dauerhaftem Frieden, von Demokratie und Wohlstand mit Menschenleben verteidigt.

Wir müssen also alle Hebel in Bewegung setzen – auch wenn sie uns schwer fallen –, um Putin in die Schranken zu weisen. Es bleibt die Hoffnung, dass dann der Druck auf den Machthaber so groß wird, dass er (ohne einen für ihn unerträglichen Gesichtsverlust) einen Frieden in der Ukraine akzeptieren kann.

Wir dürfen die Zuversicht nicht verlieren. Denn was kann stärker sein als unser gemeinsamer Glaube an ein starkes, freies und geeintes Europa?

Das sind Fragen, die nicht mehr nur uns Erwachsene Tag für Tag, Stunde um Stunde beschäftigen, sondern auch die Jugend. Als wir im März zur Hissung der Ukraine-Fahne vor unserem Rathaus die Kommunalvertreter einluden, wartete der Jugendgemeinderat bereits als erste kommunale Vertretung  an der Fahnenstange bei eisiger Kälte, um bei der Zeremonie dabei zu sein. Warum?  Ihre Antwort: „Wir wollen ein deutliches Zeichen setzen für den Frieden und die Freiheit in Europa.“

Gruppenbild des Jugendgemeinderats mit Abgeordneten bei der Europafeier

Die Jugendlichen des Jugendgemeinderates Korntal-Münchingen haben aber nicht nur geredet. Sie haben den Worten auch Taten folgen lassen. Am letzten Wochenende öffneten sie mit Unterstützung vom TSV Korntal und dem Verein Sportplatz aus Münchingen die Türen der Sporthalle der Teichwiesenschule. Ihr Ziel: Sie wollten, dass sich Korntal-Münchinger und ukrainische Kinder und Jugendlichen bei Badminton, Fußball und anderen Sportarten kennenlernen. Eine klasse Idee, die überall gut ankam und die hoffentlich bald wieder einmal fortgesetzt wird. Danke, dass Ihr so aktiv seid und Euch in die Lage der geflüchteten Menschen hineinversetzt.

Doch damit nicht genug: Auch ein Zeichen für Europa haben die Jugendlichen der Städtepartner von Mirande, Tubize, Scandiano und Korntal-Münchingen mit ihrem gemeinsamen, grenzübergreifenden Video gesetzt, das wir heute sehen. Sie stellen in einem Kurzfilm ihre Stadt den Jugendlichen der Städtepartner vor. Ihre Videoclips sind – mit Unterstützung der Baden-Württemberg-Stiftung – zu einem gemeinsamen Film verbunden worden, der von unterschiedlichsten Ideen in den Partnerstädten lebt: Ob die Rugby-Mannschaft aus Mirande im Stadion jubelt, die Grundschüler aus Tubize uns als Reporter von einem Ortsteil zum nächsten führen, die Mädchen aus Scandiano uns ihre Schule zeigen oder der Jugendgemeinderat in Korntal-Münchingen zum Chillen einlädt – jedes Videoteil hat etwas Besonderes. Aber erst das gemeinsame Ganze zeigt die Vielfalt, den Wunsch nach Frieden, jugendlicher Unbeschwertheit und Zusammenhalt in Europa.

Der Jugendgemeinderat freut sich mit Bürgermeister Dr. Joachim Wolf bei der Europafeier über die gelungene Premiere ihres Videos.

Was ist das Besondere an diesem Videoprojekt? Erstens die Offenheit und Unvoreingenommenheit, zweitens die Zuversicht, drittens die Solidarität der Jugendlichen.

Da ist die Offenheit, mit der Mädchen und Jungen miteinander umgehen. Die beteiligten Jugendlichen kennen sich ja noch gar nicht. Trotzdem haben sie voller Motivation an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet. Und am Ende steht ihre Botschaft an die anderen: Kommt uns doch mal besuchen.

Dann die Zuversicht: Alle jungen Menschen, die vor der Kamera stehen, haben die Pandemie erlebt. Homeschooling, Quarantäne und vielleicht noch schlimmere Einschränkungen und traurige Erlebnisse haben sie hinter sich. Trotzdem strahlen sie Zuversicht aus. Sie lassen sich nicht von Ängsten, vom Strudel negativer Gedanken lahmlegen, sondern schauen positiv und voller Tatendrang in ihre Zukunft.

Schließlich die Solidarität: So ein grenzübergreifendes Projekt funktioniert nur, wenn alle an einem Strang ziehen: Es gibt ein Ziel, das für alle gilt. Es gibt Rahmenbedingungen, an die sich alle halten. Genau das hat in diesem Videoprojekt offensichtlich gut funktioniert. Überzeugen Sie sich nachher selbst.

Der diesjährige Europatag steht offiziell unter dem Motto „Storys of Europe – zeig mir Dein Europa" und richtet sich speziell an die Jugend. Das Motto „Zeig mir Dein Europa“ soll motivieren, verstärkt über Europa nachzudenken. Wie prägt Europa unseren Alltag? Was hat die EU mit unserem Leben zu tun? Welche Rolle soll Europa in der Welt spielen?

Eins kann man schon jetzt festhalten: Die Rolle der Städtepartnerschaften hat durch den Krieg wieder eine ganz besondere Bedeutung bekommen.

Oder wie die Jugendlichen sagen würden „Städtepartnerschaften sind absolut in.“ Denn zu den „Storys of Europe“ gehören auch die Geschichten der langjährigen, intensiven Freundschaft zwischen Mirande, Tubize und Korntal-Münchingen. Die Grundpfeiler unserer Partnerschaft sind Offenheit, Zuversicht und Solidarität, die wir an unsere Jugend weitergeben. Unsere gemeinsamen Erlebnisse, unsere Veranstaltungen und Projekte über 58 Jahre hinweg sind wie ein Gummiband, das uns zusammenhält und uns gegen die Herausforderungen der Zeit wappnet.

Diese Verbindungen zwischen Partnerstädten stellen sich Putin und allen nationalistischen Strömungen in den Weg. Sie stören sie bei ihrem Ziel, Europa zu destabilisieren, Demokratien zu schwächen und Freiheit einzuschränken. Deshalb ist es gerade jetzt so außerordentlich wichtig, gemeinsam mit Ihnen, mit Euch, mit unseren Freunden aus Tubize, Mirande und Scandiano den Europatag zu feiern und den Gegnern Europas voller Zuversicht, Selbstvertrauen und Entschlossenheit zuzurufen:

Vive l’Europe!!! – Es lebe unser freies, friedliches und geeintes Europa! Es lebe unsere Städtepartnerschaft!

Die Reden der Partnerstädte Mirande und Tubize:

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